Beitrag von Rechtsanwalt Dr. Peter Neusüß

Keine Abstandsflächen und Aufzugspflicht bei Aufstockungen, Kenntnisgabeverfahren für PV- und Solarthermieanlagen.

Der Landtag von Baden-Württemberg hat am 01.02.2023 das Gesetz zum Erlass eines Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsgesetzes und zur Verankerung des Klimabelangs in weiteren Rechtsvorschriften verabschiedet. Neben einer umfassenden Novellierung des Klimaschutzgesetzes wurden zahlreiche Fachgesetze, darunter auch die Landesbauordnung, geändert.

Aufstockung:

Hervorsticht darunter die Erleichterung für Aufstockungen um bis zu zwei Geschossen im Bestand:

  • Abstandsflächen sind im Ergebnis nicht zu beachten.
  • Die Aufzugspflicht entfällt.

Beides gilt jedoch nur, wenn die Baugenehmigung oder das Kenntnisgabeverfahren mehr als fünf Jahre zurückliegt.

Die Vereinfachung der Nachverdichtung ist bereits seit längerer Zeit Ziel mehrerer Gesetzesänderung. Mit der Aufhebung der Abstandsflächen- und Aufzugspflicht für Aufstockung um bis zu 2 Geschosse werden zwei große Steine aus dem Weg geräumt. Damit kann die erwünschte Nachverdichtung neuen Schwung erhalten. Gleichzeitig steigt der Wert von Bestandsimmobilien erheblich.

Selbstverständlich sind die übrigen rechtlichen Vorgaben einzuhalten: Insbesondere muss das Vorhaben die Festsetzungen eines Bebauungsplans beachten bzw. sich in die nähere Umgebung nach § 34 BauGB einfügen. Aber auch hier hat der Gesetzgeber durch § 31 Abs. 3 BauGB (erleichterte Befreiungen für den Wohnungsbau) und § 34 Abs. 3a BauGB („Befreiungen vom Einfügungsgebot“ u. a. für die Erweiterung von Wohngebäuden) Möglichkeiten geschaffen, die in Abstimmung mit den Baurechtsbehörden und Kommunen nunmehr leichter genutzt werden können.

Neue Bedeutung wird insofern dem Rücksichtnahmegebot zukommen: Bislang hatte die Rechtsprechung geurteilt, dass das Rücksichtnahmegebot grundsätzlich nicht verletzt ist, wenn die Abstandsflächen eingehalten werden. Durch die Pauschale Aufhebung des Abstandsflächengebots wird dies voraussichtlich künftig nicht mehr gelten. Ob eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots droht, sollte daher möglichst frühzeitig geprüft werden.

Die in diesem Zusammenhang häufig aufkommende Frage der Stellplatzverpflichtung nach § 37 LBO wurde bereits mit Wirkung zum 01.08.2019 entsprechend geändert: Bei Schaffung von zusätzlichem Wohnraum, insbesondere durch Aufstockung, sind keine weiteren Stellplätze herzustellen, wenn die Baugenehmigung oder Kenntnisgabe für das Gebäude mindestens fünf Jahre zurückliegt.

Kenntnisgabeverfahren für Solaranlagen:

Daneben wurde das Kenntnisgabeverfahren für sämtliche gebäudeunabhängigen Photovoltaik- und Solarthermieanlagen geöffnet. Nachdem diese Anlagen entlang von Autobahnen und Schienenwegen nach § 35 Abs. 1 Nr. 8 BauGB seit Anfang des Jahres privilegiert zulässig sind, bedarf es für die Installation nur noch der Kenntnisgabe. Im Übrigen ist weiterhin ein Bebauungsplan erforderlich. 

Daneben wurden nunmehr alle PV-Anlagen an baulichen Anlagen genehmigungsfrei gestellt. Bislang war dies auf PV-Anlagen auf oder an Gebäuden beschränkt. 

Kein Ausschluss von EE-Anlagen durch örtliche Bauvorschriften:

Örtliche Bauvorschriften sind nach der Gesetzesänderung „grundsätzlich“ nur zulässig, wenn sie gleichzeitig die Nutzung erneuerbarer Energien zulassen. Im Gegensatz zur bisherigen Formulierung des § 74 Absatz 1 Satz 2 LBO sind somit nicht mehr nur unangemessene Beeinträchtigungen beziehungsweise ein Ausschluss erneuerbarer Energien zu vermeiden, sondern es ist deren Nutzung grundsätzlich ohne Einschränkung zuzulassen, so zutreffend die Gesetzesbegründung.

Fraglich ist, ob dies auch für bestehende örtliche Bauvorschriften gilt, was durch Auslegung des Änderungsgesetzes zu ermitteln ist. Entscheidend ist, ob der Gesetzgeber der Neuregelung entgegenstehende Bauvorschriften aufheben wollte (vgl. VGH BW, Beschluss vom 12. Februar 2019 – 5 S 2487/18 –, Rn. 18, juris). Dass die Gesetzesbegründung auf den Erlass der Bauvorschrift Bezug nimmt, spricht dafür, dass bestehende örtliche Bauvorschriften nicht berührt sein sollten. Der allgemeine Gesetzeszweck, Hindernisse für die Installation von Erneuerbaren-Energien-Anlagen zu beseitigen, spricht dafür, dass auch bestehende örtliche Bauvorschriften diesen nicht mehr entgegengehalten werden dürfen. Nachdem der Gesetzgeber sogar den Denkmalschutz insoweit zurückstellt, wäre es konsequent, dass die Neuregelung auch auf bestehende örtliche Bauvorschriften anzuwenden, zumal die Regelungswirkung sonst sehr begrenzt wäre. 

Weitere Änderungen:

Das Gesetz enthält zahlreiche weitere Änderungen, insbesondere auch

  • zum Denkmalschutz
  • des Landesplanungsgesetzes
  • des Landeswaldgesetzes
  • und selbstverständlich des Landesklimaschutzgesetzes.

Hierüber werden wir in weiteren Beiträgen informieren.

Inkrafttreten:

Das Gesetz tritt nach seiner Verkündung im Gesetzblatt in Kraft.

Maßgebliche Vorschriften:

Artikel 3

Änderung der Landesbauordnung für 

Baden-Württemberg

Die Landesbauordnung für Baden-Württemberg in der Fassung vom 5. März 2010 (GBl. S. 358, ber. S. 416), die zuletzt durch Artikel 27 der Verordnung vom 21. De­zember 2021 (GBl. 2022 S. 1, 4) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

1. § 3 wird wie folgt geändert: 

a) Nach Absatz 1 wird folgender Absatz 2 eingefügt: 

„(2) Bei der Planung, Errichtung und Änderung von Gebäuden und sonstigen baulichen Anlagen ist der besonderen Bedeutung von Energieeinsparung, -effizienz und erneuerbaren Energien sowie des Verteilnetzausbaus nach dem Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsgesetz Baden-Württemberg Rechnung zu tragen.“ 

b) Der bisherige Absatz 2 wird der Absatz 3.

2. § 5 wird wie folgt geändert: 

a) Absatz 5 wird folgender Satz angefügt: 

„Eine Aufstockung um bis zu zwei Geschosse wird auf die Wandhöhe nicht angerechnet, wenn die Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zu­rückliegt.“ 

b) Absatz 6 wird folgender Satz angefügt: 

„Satz 2 gilt für die nachträgliche Anbringung von Anlagen zur photovoltaischen oder thermischen Solarnutzung entsprechend.“ 

3. § 29 Absatz 2 wird folgender Satz angefügt: 

„Satz 1 gilt nicht bei der Aufstockung um bis zu zwei Geschosse, durch die die Höhe von 13 m überschritten wird, wenn die Baugenehmigung oder die Kenntnis­gabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zurückliegt.“

4. In § 51 Absatz 1 Satz 1 wird nach dem Wort „vorlie­gen“ folgender Halbsatz eingefügt: 

„; bei von baulichen Anlagen unabhängigen Anlagen zur photovoltaischen oder thermischen Solarnutzung gilt die Ausnahme für Sonderbauten nicht“.

5. § 74 Absatz 1 Satz 2 wird wie folgt gefasst: 

„Anforderungen nach Satz 1 Nummer 1 sind grund­sätzlich nur zulässig, wenn sie gleichzeitig die Nut­zung erneuerbarer Energien zulassen.“

6. Im Anhang (Verfahrensfreie Vorhaben) Nummer 3 Buchstabe c werden das Wort „Gebäuden“ durch die Wörter „baulichen Anlagen nach § 2 Absatz 1 Sätze 1 und 2“, das Wort „Gebäude“ durch die Wörter „bau­lichen Anlagen“ und das Wort „gebäudeunabhängige“ durch die Wörter „von baulichen Anlagen nach § 2 Absatz 1 Sätze 1 und 2 unabhängige“ ersetzt.

Links zum Gesetz und zur Begründung:

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