Beitrag von Rechtsanwalt Dr. Ole Jena
VGH BW, Beschl. v. 11.04.2022 – 3 S 470/22, juris
Sachverhalt und Entscheidungsgrundlage:
Gegenstand der Entscheidung war ein Bebauungsplan einer Gemeinde mit ca. 2.400 Einwohnern, der ein allgemeines Wohngebiet von knapp 1,5 ha festsetzt. Im Raum stand u.a. die Frage, ob der Bebauungsplan gegen die Ziele der Raumordnung verstößt und damit gemäß § 1 Abs. 4 BauGB unwirksam ist.
Plansatz 2.4.1.1 (2) G enthält den bloßen Grundsatz, dass zur Bestimmung des Flächenbedarfs im Rahmen der Eigenentwicklung für die Funktion Wohnen als Orientierungswert ein Zuwachsfaktor in Höhe von bis zu 0,25 % pro Jahr bezogen auf die Einwohnerzahl zum Planungszeitpunkt zugrunde gelegt werden soll.
Plansatz 2.4.1.1 (3) Z setzt wiederum als Ziel fest, dass zur Umrechnung des Zuwachsfaktors eine Bruttowohndichte von 50 Einwohnern pro Hektar zugrunde zu legen ist.
Demzufolge bietet das Wohngebiet (1,5 ha) Platz für 75 Einwohner.
Der nachzuweisende Bedarf des Plangebiets deckt hiernach in etwa einen Zeitraum von 12,5 bis 13 Jahren ab.
Dies wirft die Fragen auf, für welchen Zeitraum eine Gemeinde mit Eigenentwicklung für die Funktion Wohnen planen darf, ob der Zeitraum von der Wahl des Verfahrens (hier: § 13b BauGB) abhängt und überhaupt welche Flächen- bzw. Planungsvorratspolitik eine Eigenentwicklergemeinde treiben darf. Diese Frage waren bislang vom VGH BW nicht und auch sonst kaum entschieden.
Entscheidung:
Nachdem der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 26.01.2022 die Frage noch offenlassen konnte und die vorläufige Außervollzugsetzung aus formalen Gründen anordnete, entschied er am 11.04.2022 auf Abänderungsantrag der Gemeinde entsprechend § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zugunsten des Bebauungsplans.
Zunächst betont der Senat, dass die Planungsträger an die Ziele der Raumordnung strikt gebunden sind. Dies schließe jedoch nicht aus, dass sie diese je nach Aussageschärfe konkretisieren und ausgestalten können (a.a.O., Rn. 51). Auch bleibe es dem Plangeber (hier: Regionalverband Südlicher Oberrhein (RVSO)) unbenommen, den Verbindlichkeitsanspruch seiner Planaussage zu relativieren und teilweise zurückzunehmen, indem er dem Träger der nachfolgenden Planung beschränkte Gestaltungsspielräume einräumt, sog. „relative Offenheit der zielförmigen Vorgaben“ (a.a.O., Rn. 52).
Weiter heißt es, dass als Ziele der Raumordnung ausgestaltete Vorgaben des Regionalplans hinsichtlich der Bestimmung des Wohnbauflächenbedarfs von Gemeinden mit Eigenentwicklung keine Vollregelung enthalten. „Der Regionalverband räumt dementsprechend den örtlichen Planungsträgern einen recht großen Gestaltungsspielraum ein“ (a.a.O., Rn. 57).
Davon ausgehend liege kein Verstoß gegen Ziele der Raumordnung vor. Beim sich aus Fläche und Zuwachsfaktor ergebenden Bedarf für 12,5 bis 13 Jahre sei einerseits zu berücksichtigen, dass im Flächennutzungsplan seit dem Jahr 2013 0,7 ha des Plangebiets bereits als Wohnbaufläche ausgewiesen sind. Diese der Gemeinde zustehende Reserve wurde seither nicht in Anspruch genommen. Eine Bedarfsdeckung bis in die zweite Hälfte der 2020er-Jahre stelle keinen unangemessenen Zeitraum dar. Eine Beschränkung auf kürzere Zeiträume würde vor allem kleineren Gemeinden die Möglichkeit nehmen, etwas größere Baugebiete zu erschließen. Sie müssten dann kleinere Gebiete erschließen, wodurch im Ergebnis höhere Kosten entstehen. Einen Grund für einen kürzeren Planungshorizont und damit eine kleinere Vorratsfläche sah der Senat anders als der RVSO in der Verfahrensart nach § 13b BauGB nicht.
Hilfsweise stellt der Senat fest, dass ein Verstoß gegen das Ziel „Gemeinde mit Eigenentwicklung für die Funktion Wohnen“ nicht den Interessen der Antragsgegner diene – worauf es im Normenkontrollverfahren in der Begründetheit – anders als im Rahmen der Abwägung im Eilverfahren – freilich nicht ankommt. Zur Zieleinhaltung sei im hier maßgeblichen Fall vor allem der Regionalverband Südlicher Oberrhein berufen, der aber in einer jüngeren Stellungnahme ausdrücklich bekundet hat, keine Bedenken gegen die Planung zu haben.
Fazit und Ausblick:
Die Entscheidung betont einerseits die zwingende Bedeutung der Ziele der Raumordnung (wie schon § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG), eröffnet dem Plangeber, aber auch den Gemeinden Gestaltungsspielräume in der Ausformung. Anders als noch der RSVO sieht sie keinen Anlass zu einer Beschränkung des Planungshorizonts im vereinfachten Verfahren, und sie unterstreicht richtigerweise die Notwendigkeit einer länger vorausschauenden und damit auch einen Flächenpuffer schaffenden Vorgehensweise – wichtig gerade für kleinere Gemeinden. Sie liefert damit erste wichtige Grundsätze zum richtigen – großzügigeren – Umgang mit den Plansätzen im Rahmen der Siedlungsentwicklung.
Offen bleibt die Frage, wie die Gemeinden mit dem so geschaffenen Puffer umgehen dürfen: Was hindert sie, den 15-Jahres-Puffer für Einheimische in einem Jahr für Ortsfremde aufzubrauchen? Die Antwort hierauf kann nicht in einer auch an Art. 28 GG zu messenden Planungsrestriktion liegen. Einige Sicherheit bietet schon die politische Kontrolle. Das Vermarktungsgebaren kann die Kommunalaufsicht beobachten und erforderlichenfalls einschreiten. Und im Falle eines vorschnellen neuen Puffers dürfte auch eine Missbrauchskontrolle stattfinden – da bleibt aber noch mancher Diskussionsbedarf.
Maßgebliche Vorschriften:
§ 1 BauGB
(…)
(4) Die Bauleitpläne sind den Zielen der Raumordnung anzupassen.
§ 3 Raumordnungsgesetz (ROG)
(1) Im Sinne dieses Gesetzes sind
(…)
- Ziele der Raumordnung:
verbindliche Vorgaben in Form von räumlich und sachlich bestimmten oder bestimmbaren, vom Träger der Raumordnung abschließend abgewogenen textlichen oder zeichnerischen Festlegungen in Raumordnungsplänen zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums;
- Grundsätze der Raumordnung:
Aussagen zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums als Vorgaben für nachfolgende Abwägungs- oder Ermessensentscheidungen; Grundsätze der Raumordnung können durch Gesetz oder als Festlegungen in einem Raumordnungsplan aufgestellt werden;
- (…)
Plansätze Regionalplan Südlicher Oberrhein
2.4.1 Siedlungsentwicklung – Wohnen
2.4.1.1 Gemeinden mit Eigenentwicklung für die Funktion Wohnen
- Z – Als Gemeinden mit Eigenentwicklung für die Funktion Wohnen werden festgelegt: Au, Auggen, Bad Peterstal-Griesbach, Badenweiler, Bahlingen am Kaiserstuhl, Ballrechten-Dottingen, Berghaupten, Biederbach, Bollschweil, Breitnau, Buchenbach, Buggingen, Durbach, Ebringen, Ehrenkirchen, Eichstetten am Kaiserstuhl, Eisenbach (Hochschwarzwald), Eschbach, Feldberg (Schwarzwald), Fischerbach, Forchheim, Freiamt, Friedenweiler, Glottertal, Gottenheim, Gutach (Schwarzwaldbahn), Hartheim am Rhein, Heuweiler, Hinterzarten, Hofstetten, Hohberg, Horben, Hornberg, Kappel-Grafenhausen, Kippenheim, Lauf, Lautenbach, Lenzkirch, Mahlberg, Malterdingen, Merdingen, Merzhausen, Mühlenbach, Münstertal/Schwarzwald, Neuried, Nordrach, Oberharmersbach, Oberried, Oberwolfach, Ohlsbach, Oppenau, Ortenberg, Ottenhöfen im Schwarzwald, Pfaffenweiler, Reute, Rheinhausen, Riegel am Kaiserstuhl, Ringsheim, Rust, Sasbach, Sasbach am Kaiserstuhl, Sasbachwalden, Schluchsee, Schuttertal, Schutterwald, Seebach, Seelbach, Sexau, Simonswald, Sölden, St. Märgen, St. Peter, Stegen, Steinach, Sulzburg, Vogtsburg im Kaiserstuhl, Vörstetten, Weisweil, Winden im Elztal, Wittnau und Wyhl am Kaiserstuhl.
- G – Zur Bestimmung des Flächenbedarfs im Rahmen der Eigenentwicklung für die Funktion Wohnen soll als Orientierungswert ein Zuwachsfaktor in Höhe von bis zu 0,25 % pro Jahr bezogen auf die Einwohnerzahl zum Planungszeitpunkt zugrunde gelegt werden. Der jeweilige Bedarf ist nachzuweisen.
- Z – Zur Umrechnung des Zuwachsfaktors ist eine Bruttowohndichte von 50 Einwohnern pro Hektar zugrunde zu legen.
- G – In begründeten Fällen können höhere Wohnbauflächenbedarfe in vertretbarem Maß zugrunde gelegt werden, insbesondere wenn ein Einpendlerüberschuss oder ein Geburtenüberschuss besteht, außerdem bei Gemeinden entlang von Entwicklungsachsen, bei Kleinzentren und im Umfeld des Europa-Parks.
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