21.09.2022

Mindestsätze der HOAI 2013 sind in einem laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen weiterhin anwendbar

Beitrag von Rechtsanwalt Moritz Schmid

BGH, Urt. v. 02.06.2022 – VII ZR 174/19

Sachverhalt:

Der EuGH hatte in einem von der Europäischen Kommission betriebenen Vertragsverletzungsverfahren durch Urteil vom 04.07.2019 entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre aus der Dienstleistungsrichtlinie folgenden Pflichten verstoßen hat, weil sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat. Es war daraufhin ein Meinungsstreit entstanden, ob die Regelungen in § 7 der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI), wonach die Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen grundsätzlich verbindlich sind und eine die Mindestsätze unterschreitende Honorarvereinbarung in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren unwirksam ist, nicht mehr anzuwenden sind.

Der Kläger, der ein Ingenieurbüro betreibt, verlangt von der beklagten Bauherrin die Zahlung restlicher Vergütung aufgrund eines im Jahre 2016 abgeschlossenen Ingenieurvertrages. Vertraglich vereinbart war ein Pauschalhonorar für die Ingenieurleistungen in Höhe von 55.025 €. Nachdem der Kläger den Ingenieurvertrag gekündigt hatte, rechnete er im Juli 2017 seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung auf Grundlage der Mindestsätze der HOAI (2013) ab. Mit der Klage macht er eine demnach noch offene Restforderung in Höhe des ca. Doppelten des vereinbarten Pauschalhonorars geltend. 

Entscheidung:

Der Kläger kann von der Beklagten das Mindestsatzhonorar verlangen. Die Vorschriften der HOAI, die das verbindliche Preisrecht (hier: die Mindestsätze) regeln, sind unbeschadet des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 04.07.2019 anzuwenden und führen zu einem Honoraranspruch des Klägers entsprechend der HOAI-Mindestsätze. Die zwischen den Parteien im vorliegenden Ingenieurvertrag getroffene Pauschalhonorarvereinbarung ist nach nationalem Recht wegen Unterschreitung der HOAI-Mindestsätze unwirksam, weil kein Ausnahmefall gemäß § 7 Abs. 3 HOAI vorlag.       

Dem steht der Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB nicht entgegen, da die Geltendmachung eines Anspruchs durch eine Partei nicht deshalb als treuwidrig bewertet werden kann, weil die nationale Rechtsvorschrift, aus der der Anspruch hergeleitet wird, gegen eine Richtlinie der Europäischen Union verstößt. §  7 HOAI kann ferner nicht richtlinienkonform dahin ausgelegt werden, dass die Mindestsätze der HOAI im Verhältnis zwischen Privatpersonen grundsätzlich nicht mehr verbindlich sind und daher einer die Mindestsätze unterschreitenden Honorarvereinbarung nicht entgegenstehen.

Der BGH ist auch nicht aufgrund Unionsrechts verpflichtet, das verbindliche Mindestsatzrecht der HOAI unangewendet zu lassen. Der EuGH hatte insoweit festgestellt, dass der Dienstleistungsrichtlinie eine unmittelbare Wirkung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht zukommt. Die betreffende Richtlinie steht der Anwendung der verbindlichen Mindestsätze daher nicht entgegen. Der EuGH hat ferner ausgeführt, dass die zuständigen nationalen Gerichte nicht allein aufgrund eines im Vertragsverletzungsverfahren erlassenen Urteils verpflichtet sind, im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatpersonen eine nationale Regelung, die gegen die Bestimmung einer Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen.

Europäisches Primärrecht in Form der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts stehen der Anwendung der in der HOAI verbindlich geregelten Mindestsätze ebenfalls nicht entgegen, da dieses nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung findet. 

Fazit:

Die schon länger diskutierte Frage der Anwendbarkeit der Mindestsätze gemäß HOAI 2013 auf Altverträge ist mit der Entscheidung des BGH geklärt. Im Zusammenhang mit Altverträgen kommen daher weiterhin Aufstockungsklagen von Architekten in Betracht, sofern mindestsatzunterschreitende Honorarvereinbarungen getroffen wurden.

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

Bürgerliches Gesetzbuch

§ 242 Leistung nach Treu und Glauben

Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (2013)

§ 1 Anwendungsbereich

Diese Verordnung regelt die Berechnung der Entgelte für die Grundleistungen der Architekten und Architektinnen und der Ingenieure und Ingenieurinnen (Auftragnehmer oder Auftragnehmerinnen) mit Sitz im Inland, soweit die Grundleistungen durch diese Verordnung erfasst und vom Inland aus erbracht werden.

§ 7 Honorarvereinbarung

(1) Das Honorar richtet sich nach der schriftlichen Vereinbarung, die die Vertragsparteien bei Auftragserteilung im Rahmen der durch diese Verordnung festgesetzten Mindest- und Höchstsätze treffen.

(2) …

(3) Die in dieser Verordnung festgesetzten Mindestsätze können durch schriftliche Vereinbarung in Ausnahmefällen unterschritten werden.

(4) …

(5) Sofern nicht bei Auftragserteilung etwas anderes schriftlich vereinbart worden ist, wird unwiderleglich vermutet, dass die jeweiligen Mindestsätze gemäß Absatz 1 vereinbart sind.

(6) …

Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie)

Art. 15 Zu prüfende Anforderungen

(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.

(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:

g) der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer;

(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:

a) Nicht-Diskriminierung: die Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei Gesellschaften – aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;

b) Erforderlichkeit: die Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;

c) Verhältnismäßigkeit: die Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.

(5-7) …

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)

Art. 267

Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung

a) über die Auslegung der Verträge,

b) …

Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. …

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