Urteilsanmerkung von Rechtsanwalt Dr. Neusüß
Mit der Reform des Baugesetzbuchs zum „Bau-Turbo“ soll der Wohnungsbau weiter beschleunigt werden. Die erste obergerichtliche Entscheidung hierzu liegt jetzt mit Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 6.11.2025 – 5 S 695/24 – vor. Der Senat hatte sich erstmals mit der in der Praxis bedeutsamen Neufassung des § 31 Abs. 3 BauGB auseinanderzusetzen, der eine Befreiungsmöglichkeit zugunsten des Wohnungsbaus vorsieht. Das Gericht geht davon aus, dass die neuen Vorschriften auch für laufende Verfahren gelten, eine Aussetzung des Verfahrens aber nur in Betracht kommt, wenn eine Zustimmung der Gemeinde möglich erscheint. Zuständig dürfte ohne Änderung der Hauptsatzung der Gemeinderat sein.
Neuerungen durch den Bau-Turbo: Mehr Befreiungen für den Wohnungsbau – mit Zustimmung der Gemeinde
Die Neuregelung des § 31 Abs. 3 BauGB ermöglicht erstmals Befreiungen zugunsten des Wohnungsbaus nicht nur für Einzelfälle, sondern ausdrücklich auch „in mehreren vergleichbaren Fällen“. Ziel ist eine spürbare Entbürokratisierung: Abweichungen von Festsetzungen des Bebauungsplans – etwa zu Grundflächenzahl oder Geschossigkeit – dürfen unter bestimmten Voraussetzungen für Wohngebäude grundsätzlich auch dort zugelassen werden, wo bislang nur restriktiv und im Ausnahmefall Befreiungen möglich waren.
Zentrale Voraussetzung bleibt jedoch die Zustimmung der Gemeinde. Das neue Gesetz betont damit die kommunale Planungshoheit und eröffnet den kommunalen Gremien weitgehenden Gestaltungsspielraum: Die Zustimmung zur Befreiung wird nicht erteilt, wenn das Vorhaben nicht mit den städtebaulichen Vorstellungen der Gemeinde vereinbar ist. Das geht über das klassische bauplanungsrechtliche Einvernehmen hinaus – und verschiebt die (Entscheidungs-)Macht faktisch weiter in den Gemeinderat, der die Ausgestaltung der Planungshoheit steuern kann.
Zweifel an der Einordnung als Geschäft der laufenden Verwaltung
Ob die Erteilung der Zustimmung zur Befreiung künftig vom Bürgermeister oder der Verwaltung beschlossen werden kann – im Sinne eines „Geschäfts der laufenden Verwaltung“ – ist nach der Entscheidung zweifelhaft. Zwar vertrat die Verwaltung im entschiedenen Fall die Auffassung, es handele sich um ein Geschäft der laufenden Verwaltung nach § 44 Abs. 2 Satz 1 GemO. Der Verwaltungsgerichtshof hält aber fest: „Ob dem zu folgen ist, erscheint zweifelhaft, bedarf jedoch keiner Entscheidung, da er die Erteilung der Zustimmung abgelehnt hat.“
Damit bleibt diese Kompetenzfrage offen. Angesichts der Tragweite für die kommunale Planungshoheit spricht vieles dafür, dass gerade solche grundlegenden Weichenstellungen vom Gemeinderat und nicht von der laufenden Verwaltung getroffen werden müssen, zumal die bestehenden städtebaulichen Vorstellungen vom Gemeinderat in Bebauungsplänen, Flächennutzungsplänen und informellen Planungen beschlossen wurden.
Aussetzung des Verfahrens zur Nachholung der Zustimmungsentscheidung nicht ausgeschlossen
Eine Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens zur Nachholung der Zustimmung – etwa nach § 94 VwGO – findet nach dem Urteil nicht statt, wenn bereits nach Aktenlage feststeht, dass das Vorhaben mit den planerischen Zielen der Gemeinde nicht vereinbar ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass in anderen Fällen eine Aussetzung möglich sein dürfte. Jedenfalls aber ist damit klargestellt, dass die Vorschriften des Bau-Turbo auf laufende Verfahren Anwendung finden. Interessant ist auch, dass das Gericht die städtebaulichen Vorstellungen aus den bestehenden Bebauungsplänen und deren Begründung entnimmt. Die Befreiungsmöglichkeit des § 31 Abs. 3 BauGB soll aber gerade Befreiungen von den Festsetzungen und damit auch den städtebaulichen Vorstellungen des Bebauungsplans ermöglichen. Die Gemeinden können im Rahmen der Zustimmung ihre städtebaulichen Vorstellungen gerade aktualisieren und ändern. Das Urteil ist insofern so zu lesen, dass auf der Hand lag, dass der Gemeinderat die im – noch sehr aktuellen – Bebauungsplan vom 04.08.2023 zum Ausdruck gekommenen Vorstellungen bei Aussetzen des Verfahrens nicht ändern würde. Bei dem vom Gericht verfolgten Ansatz, die städtebaulichen Vorstellungen bestehenden Plänen zu entnehmen, liegt es nicht fern, bei einem Streit um eine Zustimmung auch auf Vorstellungen in vorangehenden Zustimmungsentscheidungen (beispielhaft für den Nachbarn) abzustellen, also in gewisser Weise eine Selbstbindung der Verwaltung anzunehmen. Eine sorgfältige Darlegung der städtebaulichen Vorstellungen bei Zustimmungsentscheidungen ist also geboten. Nicht zu entscheiden hatte der VGH, wie sich die Zustimmungsfiktion gemäß § 36a BauGB auf laufende Verfahren auswirkt.
Fazit:
Das Urteil bringt erste Klarheit: Der Bau-Turbo ist in laufenden Baugenehmigungs- und Gerichtsverfahren zu beachten. Zustimmungsentscheidungen können nachgeholt werden.
Gleichzeitig sollten Kommunen nicht davon ausgehen, dass es sich bei der Zustimmung um ein Geschäft der laufenden Verwaltung handelt. Vielmehr ist der Gemeinderat zuständig, solange die Hauptsatzung keine andere Regelung vorsieht. Insoweit empfehlen wir in unserer Beratungspraxis und vielfältigen Seminaren eine zügige Anpassung der Hauptsatzung, auch um nicht in die Zustimmungsfiktion drei Monate nach Gesuch der Baurechtsbehörde oder dem Bauantrag zu laufen.
