VGH, Urt. v. 30.06.2025 – 3 S 1958/23, Anmerkung von Rechtsanwalt Dr. Ole Jena
Wird eine grenzständige Garage zu Wohnraum umgenutzt und aufgestockt, sind die Abstandsflächenvorschriften zu beachten – auch wenn das Gebäude zuvor privilegiert war.
I. Sachverhalt
Die Eigentümerin wollte eine ehemalige Grenzgarage zu Wohnraum umnutzen und aufstocken. Die Nachbarn befürchteten Verschlechterungen bei Belichtung und Besonnung sowie Verstöße gegen die Abstandsflächen. Obwohl eine Baugenehmigung erteilt wurde, nahm die Behörde diese im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zurück. Die dagegen gerichtete Klage der Eigentümerin war zunächst erfolgreich, doch die Nachbarn setzten sich in der Berufung durch. Im Mittelpunkt stand die Frage, inwieweit bei der Umnutzung und Aufstockung die Abstandsflächenregelungen gelten. Die unterschiedlichen gerichtlichen Entscheidungen und die sich auf 137 Randnummern erstreckende Begründung zeigen die Komplexität der Rechtslage.
Zur Veranschaulichung des Vorhabens:

II. Entscheidung
Der VGH Baden-Württemberg entschied: Mit der Nutzungsänderung und baulichen Veränderung verliert die grenzständige Garage ihre abstandsflächenrechtliche Privilegierung. Die Abstandsflächenvorschriften der Landesbauordnung gelten dann auch für solche Änderungen. Für Wohnraum ist ein Mindestabstand von 2,50 m einzuhalten.
Ob die sogenannte „Aufstockungsprivilegierung“ für grenzständige Gebäude gilt, musste der Senat nicht entscheiden. Gleichwohl vertritt der Senat die Auffassung, dass Aufstockungen auf grenzständigen Gebäuden nicht privilegiert seien. Dies stehe auch nicht im Widerspruch zu einer Entscheidung des Senats vom 19.02.2025, wonach die Privilegierung nur bei Gebäuden zur Anwendung komme, die nicht vollständig die Abstandsflächen einhalten.
Abschließend befasste sich der Senat mit der Möglichkeit der Abstandsflächenunterschreitung nach § 6 Abs. 3 LBO. Eine Unterschreitung ist hiernach nur in Ausnahmefällen und nach strenger Abwägung zulässig, etwa wenn gesunde Wohnverhältnisse auf dem Nachbargrundstück nicht wesentlich beeinträchtigt werden. Im konkreten Fall stand jedoch fest, dass das Vorhaben zu einer erheblichen Verschlechterung der Belichtung und Besonnung beim Nachbarn geführt hätte, weshalb die Rücknahme der Baugenehmigung rechtmäßig war. Hinweise auf § 56 Abs. 2 Nr. 5 LBO n.F. und § 6 Abs. 3 LBO lassen vermuten, dass eine reine Nutzungsänderung ohne Aufstockung wohl zulässig gewesen wäre. Letztlich bleibt diese Frage aber offen.
Weiter prüft der Senat eine Abweichung nach § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO, der neben § 6 Abs. 3 LBO auch die Unterschreitung von Abstandsflächen zulässt, wenn diese nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 LBO für den Nachbarn unzumutbar ist. Die sodann vorgenommene Abwägung hat jedoch ergeben, dass im vorliegenden Fall eine Abweichung nicht zuzulassen ist.
III. Fazit
Die Entscheidung verdeutlicht, dass die Umwandlung von grenzständigen Nebenanlagen (wie Garagen) in Wohnraum nicht ohne Weiteres möglich ist. Bei Nutzungsänderung im Zusammenhang mit Aufstockung sind die Abstandsflächenvorschriften konsequent einzuhalten. Wer vergleichbare Projekte plant, sollte die bauordnungsrechtlichen Vorgaben frühzeitig prüfen.

Beitrag von Rechtsanwalt
Dr. Ole Jena
Vita, Veröffentlichungen & Co.:
Maßgebliche Vorschriften:
§ 5
Abstandsflächen
(…)
(5) 1Auf die Wandhöhe werden angerechnet
- die Höhe von Dächern oder Dachaufbauten mit einer Neigung von mehr als 70° voll und von mehr als 45° zu einem Viertel,
- die Höhe einer Giebelfläche zu einem Viertel; die Giebelfläche beginnt an der Horizontalen durch den untersten Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut,
- bei Windenergieanlagen nur die Höhe bis zur Rotorachse, wobei die Tiefe der Abstandsfläche mindestens der Länge des Rotorradius entsprechen muss.
2Auf die Wandhöhe werden nicht angerechnet
- die Aufstockung rechtmäßig bestehender Gebäude um bis zu zwei Geschosse sowie die Errichtung von Dachgauben und Zwerchgiebeln, wenn sie der Schaffung oder Erweiterung von Wohnraum dienen, in den durch die Außenwände vorgegebenen Grenzen erfolgen und die Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zurückliegt,
- das Anbringen oder Aufstellen von Anlagen zur photovoltaischen oder thermischen Solarnutzung auf Dächern bis zu einer Anlagenhöhe von 1,5 m,
- die nachträgliche Dämmung des Daches bis zu einer Dicke von 0,3 m.
(…)
(7) 1Die Tiefe der Abstandsflächen beträgt
- allgemein 0,4 der Wandhöhe,
- in Kerngebieten, Dorfgebieten, dörflichen Wohngebieten, urbanen Gebieten, in besonderen Wohngebieten und bei Antennenanlagen im Außenbereich 0,2 der Wandhöhe,
- in Gewerbegebieten und in Industriegebieten sowie in Sondergebieten, die nicht der Erholung dienen, 0,125 der Wandhöhe.
2Sie darf jedoch 2,5 m, bei Wänden bis 5 m Breite 2 m nicht unterschreiten.
§ 6
Abstandsflächen in Sonderfällen
(…)
(3) 1Geringere Tiefen der Abstandsflächen sind zuzulassen, wenn
- in überwiegend bebauten Gebieten die Gestaltung des Straßenbildes oder besondere örtliche Verhältnisse dies erfordern oder
- Beleuchtung mit Tageslicht sowie Belüftung in ausreichendem Maße gewährleistet bleiben, Gründe des Brandschutzes nicht entgegenstehen und nachbarliche Belange nicht erheblich beeinträchtigt werden.
2In den Fällen der Nummer 1 können geringere Tiefen der Abstandsflächen auch verlangt werden.
§ 56
Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen
(…)
(2) Ferner sind Abweichungen von den Vorschriften in den §§ 4 bis 37 dieses Gesetzes oder auf Grund dieses Gesetzes zuzulassen
- zur Modernisierung von Wohnungen und Wohngebäuden, Teilung von Wohnungen oder Schaffung von Wohnraum durch Ausbau, Anbau, Nutzungsänderung, Aufstockung oder Änderung des Daches, wenn die Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zurückliegt,
- zur Erhaltung und weiteren Nutzung von Kulturdenkmalen,
- zur Verwirklichung von Vorhaben zur Energieeinsparung und zur Nutzung erneuerbarer Energien,
- zur praktischen Erprobung neuer Bau- und Wohnformen im Wohnungsbau,
- zur Ersetzung eines rechtmäßig errichteten Gebäudes an gleicher Stelle durch ein Gebäude höchstens gleicher Abmessung in Bezug auf Abweichungen von den Anforderungen des § 5,
(…)