16.08.2021

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde: Bundesverfassungsgericht kassiert Beschluss des VGH Baden-Württemberg

So nicht: Der 3. Senat des VGH Baden-Württemberg hat durch die Nichtzulassung der Berufung die Grundrechte unseres Mandanten gleich dreimal in offenkundiger Weise verletzt:

Trotz Anhörungsrüge half er einem Gehörsverstoß mit schlicht unzutreffender Begründung nicht ab. Er übersah – trotz umfassenden Vortrags – die grundsätzliche Bedeutung einer bislang ungeklärten Rechtsfrage. Und er überspannte in willkürlicher Weise die Anforderungen an die Darlegung ernstlicher Zweifel. Dies stellte das Bundesverfassungsgericht mit deutlichen Worten auf die von Dr. Peter Neusüß (Sparwasser & Schmidt Rechtsanwälte, Mozartstr. 48, 79104 Freiburg) erhobene Verfassungsbeschwerde hin fest. Auch dieser Fall zeigt: Oftmals unbefriedigend begründete, weil unanfechtbare Entscheidungen können mithilfe des Bundesverfassungsgerichts gekippt werden.

Sachverhalt

Der Vater des Beschwerdeführers gab bei der Gemeinde unter Vorlage einer Vollmacht Einwendungen gegen ein Bauvorhaben auf dem Nachbargrundstück zu Protokoll. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag der Berufung mit der Begründung ab, der Beschwerdeführer sei präkludiert, da für die Baurechtsbehörde nicht erkennbar gewesen sei, dass sein Vater die Einwendung im Namen seines Sohns erhob. Der Gemeinde lag allerdings die entsprechende Vollmacht vor.

Entscheidung

Die dagegen erhobene, von uns vertretene Verfassungsbeschwerde war aus mehreren Gründen erfolgreich:

Gehörsverstoß

Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Beschluss vom 7.7.2021 (1 BvR 2356/19) einen Gehörsverstoß fest, da der 3. Senat des Verwaltungsgerichtshofs die Zulassung der Berufung mit einer neuen Begründung ablehnte. Weder hatte er selbst im Eilverfahren noch hatte das Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass es für die Frage der Erkennbarkeit in fremden Namen zu handeln allein auf den Empfängerhorizont der Baurechtsbehörde und nicht auch der Gemeinde ankomme. Selbst nach der erhobenen Anhörungsrüge hatte der Senat den Gehörsverstoß nicht abgestellt: Er hatte behauptet, dass dieser Gesichtspunkt nicht tragend gewesen sei, was aber „offenkundig“ nicht zutraf, wie nun das Bundesverfassungsgericht bestätigte.

Grundsätzliche Bedeutung

Zwar könne die Zulassung der Berufung mit einer neuen Begründung abgelehnt werden, so das Bundesverfassungsgericht, jedoch dann nicht, wenn die Begründung nicht auf der Hand liege. Die Fragen, ob die Gemeinde bei Einwendungen nach § 55 Abs. 2 S. 1 LBO nur Empfangsbotin sei, welche Stellung die Gemeinde im Angrenzerbenachrichtigungsverfahren habe und inwiefern der Baurechtsbehörde das Wissen der Gemeinde zugerechnet werden kann, seien in Literatur und Rechtsprechung bislang weder vertieft diskutiert noch einhellig geklärt. Zur Klärung sei ein Berufungsverfahren erforderlich, die Nichtzulassung verletze den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG.

Ernstliche Zweifel

Zudem habe der Verwaltungsgerichtshof die Anforderungen an das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung „willkürlich überspannt“. Die Ablehnung ernstlicher Zweifel aufgrund des Vortrags, dass die Gemeinde gewusst habe, dass der Vater des Beschwerdeführers seinen Sohn vertrat, sei sachlich nicht mehr vertretbar, der Beschwerdeführer daher in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Nachlesen:

>> Beschluss vom 01. Juli 2021 – (1 BvR 2356/19) <<

Weiteres Verfahren

In der Sache erscheint die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, der Baurechtsbehörde sei das Wissen der Gemeinde nicht zuzurechnen, kaum vertretbar: Nach den entsprechend anzulegenden zivilrechtlichen Grundsätzen der Wissenszurechnung kann die Aufsplittung des Verfahrens zwischen Gemeinde und Baurechtsbehörde den Angrenzern nicht zum Nachteil gereichen. Mit viel Erfahrung im öffentlichen und im Zivilrecht gehen wir daher zuversichtlich in das anstehende Berufungsverfahren.

Folgerung

Der Fall zeigt: Auch im ordentlichen Rechtsweg nicht anfechtbare Entscheidungen sollten die Gerichte ordnungsgemäß begründen – sie steigern dadurch nicht nur die Akzeptanz der Entscheidung, sondern sind auch davor gefeit, sich dem Vorwurf der Willkür, offenkundig falscher Begründungen und einer sachlich nicht mehr zu rechtfertigenden Argumentation aus Karlsruhe auszusetzen.

Man muss sich mit der Ablehnung der Zulassung der Berufung nicht abfinden, zumal sie häufig – wohl aufgrund der Unanfechtbarkeit im ordentlichen Rechtsweg – unbefriedigend begründet werden. Auch wenn Verfassungsbeschwerden selten erfolgreich sind, sind sie in diesen Situationen zumindest zu bedenken.

Aktenzeichen: 1 BvR 2356/19